Der Begriff „Industrie 4.0“ beschreibt den nächsten relevanten industriellen Innovationsschritt und repräsentiert in Politik, Medien und Industrie die Zukunftsfähigkeit Deutschlands und die Möglichkeit, Weltmarktführer in einem neuen Bereich zu werden. Zwar werden viele bedeutsame Entwicklungen richtig beschrieben und Initiativen sinnvoll gebündelt, aber die ehrgeizigen Szenarien bedürfen einer sorgfältigen Prüfung. Arthur D. Little sieht in Bezug auf Industrie 4.0 drei kritische Punkte.
Total vernetztes selbstorganisiertes Produktions- und Logistiksystem noch unrealistisch
Der geforderte Wechsel zu einem total vernetzten selbstorganisierenden Produktions- und Logistiksystem ist nach absehbarem Stand der Technik unrealistisch, das Risiko des Scheiterns ist sehr hoch. Vision und Ansatz sind für die Grundlagenforschung aber interessant.
Produktion ist nicht so entscheidend für Wettbewerbsposition wie andere Faktoren
Der Fokus von Industrie 4.0 liegt auf der Produktion. Forschung & Entwicklung,
Marketing & Aftersales sowie innovative
Geschäftsmodelle sind für die Wettbewerbsposition von Unternehmen und Volkswirtschaften aber viel wichtiger. Entsprechend ist der Fokus auf die Produktion für eine strategische volkswirtschaftliche und unternehmerische Betrachtung zu kurz gegriffen. Der primäre Effekt der geforderten Cyber Physical Systems (CPS) liegt im Produktgebrauch, nicht in der Produktion. Die "Infor„atisierung" ist in der Produktion schon lange hoch, wie Apples Siegeszug und der begleitende Niedergang von Nokia zeigen. Apples Erfolgsfaktoren waren ein intelligentes und ansprechendes Produkt, ein überragendes
Marketing und ein überlegenes
Geschäftsmodell. Im Automobilsektor findet sich aktuell die sowohl spannendste als auch für Deutschland bedrohlichste Disruption statt, die durch neue Mobilitätskonzepte, alternative Antriebe und autonome Fahrzeuge zustande kommt. Newcomer und Quereinsteiger fordern die Automobilhersteller heraus, wobei die Produktion nicht der entscheidende Faktor ist, denn sie kann ausgelagert werden. Die Kombination von Innovationen bei Produkteigenschaften,
Geschäftsmodell und
Marketing birgt das disruptive strategische Potential.
Hyperkonkurrenz prägt nächste Revolution
Die Hyperkonkurrenz prägt unabhängig von der Branche die laufende nächste Revolution. Gerade auf der Produkt- und
Geschäftsmodellseite resultieren Break-Through-Innovationen in disruptiven Situationen und dadurch zur jederzeit gefährdeten Wettbewerbssituation der Etablierten. Für den Erfolg bedarf es einer permanenten und disruptiven Innovations- und Anpassungsfähigkeit, mit der alle etablierten Unternehmen zu kämpfen haben. Die Hyperkonkurrenz wird durch „intelligente Dinge“, Globalisierung, mobile Finanzmärkte und Ressourcenknappheit getrieben.
Bewertung der Situation und Trends in Industrie 4.0
Sowohl staatliche als auch unternehmerische Akteure versuchen, „Industrie 4.0“ und ähnliche Ansätze voranzutreiben. Allerdings ist die Wirkung von politisch-, interessen- oder forschungsgetriebenen Versuchen der Trendbeeinflussung und Wirtschaftsentwicklung meist nicht nachhaltig. Innovationsquellen werden immer stärker
Start-Ups und radikal innovative Unternehmen sein, womit Industrie 4.0 eher keine Antwort auf diese Bedrohung für die etablierten deutschen Industrieunternehmen ist. Zwar greifen Ansätze wie Industrie 4.0 wichtige Trends auf, diese Trends gibt es aber auch unabhängig von diesen Ansätzen. Diese Trends resultieren in einem Verbesserungspotential für die Produktion und so für die Wettbewerbsfähigkeit. Der geforderte Schritt zur selbstorganisierenden, maximal flexiblen vernetzten Produktion wirkt viel zu ehrgeizig und wird dem Großteil der Industrieunternehmen so in absehbarer Zukunft zu radikal und riskant sein.
Selbststeuerung in Produktion und Logistik ist letzter Schritt der „Smartization“
Cyber Physicla Systems (CPS) werden stärkeren Einfluss auf die Welt der „Dinge“ haben als auf die Welt der Produktion der Dinge. Schon jetzt ist die Produktion hochgradig IT-gesteuert, aber nicht immer IP-basiert. Genau diese
IT-Steuerung ist das Kennzeichen der Industrie 3.0. Fakt ist, dass Vernetzungen und vor allem Auswertung und Kontrolle auf Basis von Big Data weiter zunehmen. Aber die Selbststeuerung von Dingen in der Produktion und Logistik sind erst der letzte Schritt der „Smartization“. Treiber für den Fokus auf die Produktion sind der politische Wunsch, die Produktion in Deutschland und der EU zu halten, und die Vertriebsabsichten der Maschinenbauer. Die Schlacht der Zukunft wird aber auf anderen Feldern und vermutlich mit anderen Innovationsansätzen gewonnen werden.
Aktuelle Herausforderungen für Unternehmen
Laut Arthur D. Little stehen die Unternehmen vor einer Reihe von Unternehmen. Die erfolgsentscheidende Kernkompetenz der Unternehmen besteht in der ganzheitlichen, ständigen Fähigkeit zur Innovation und Anpassung. Die besondere Herausforderung für die Produktion ist die explodierende Komplexität bei sehr hohen Anforderungen in Qualität, Just-in-Sequence, Kosteneffizienz in der Produktion und höchst komplexen Produkten. In der Fertigung und Logistik haben sich einfach vom Kunden und vom Ende kommende Konzepte durchgesetzt. Durch die deutsche Wirtschaft wurde dies erfolgreich auf eine variantenreiche und hochkomplexe Produktion angepasst. Zur weiteren Verbesserung von Flexibilität, Qualität und Effizienz ist dies evolutionär weiter voranzutreiben. Eine top-down-Optimierung, die z. B. konzept- und forschungsgetrieben ist, wird, wenn das Ziel ein selbstorganisierendes und vollständig vernetztes Produktions- oder Logistiksystem ist, in der Praxis in absehbarer Zeit scheitern. Oft wird ein evolutionärer Ansatz gefordert, aber hier soll im Grunde ein Wandel von einer komplexitätsmindernden Sukzessivsteuerung zu einer vollkomplexen Simultansteuerung erfolgen, was aufgrund des absehbaren Fortschritts in der Informatik und den Planungs- und Steuerungskonzepten nicht möglich ist. Viele andere Anwendungsfälle, wie komplexere Assistenzsysteme, größere Transparenz sowie kundenintegriertes Engineering, werden bald real, höchstens in gewissen nicht-komplexen Produktnischen gibt es evtl. eine Erfolgsmöglichkeit für selbstorganisierende Systeme. Das Thema Cybersicherheit wird immer noch unterschätzt, spielt aber in der Produktion und vor allem bei smarten und vernetzten Produkten, eine wichtige Rolle. Die Kritik, dass eine intelligente Fabrik die Arbeitskräfte in der Fabrik ersetzt, ist isoliert betrachtet zwar, richtig, volkswirtschaftlich und unternehmensstrategisch aber falsch. Die Verweigerung des Fortschritts hätte im Gegenteil den massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen zur Folge.